
Inzwischen bin ich seit 9 Jahren in Pension. Ich habe mit meinem Berufsleben abgeschlossen: Ich bin zu jeder Arbeitsstelle, die ich hatte, gerne gegangen und habe gerne dort gearbeitet. Das kann ich rückblickend sagen, auch wenn es natürlich einzeln Tage oder Situationen gab, die mir nicht gefallen oder mich sogar geärgert haben. Aber rückblickend kann ich mir sagen, dass ich beruflich vieles richtig gemacht habe. Genau so gerne, wie ich gearbeitet habe, bin ich aber auch in den Ruhestand gegangen. Mir fehlte nichts, ich fiel nicht in das berühmte „schwarze Loch“, sondern ich hatte andere Hobbys und Aufgaben, die im Mittelpunkt standen und stehen.
Hin und wieder holt mich aber auch meine Lehrer-Tätigkeit ein, wenn ich doch mal ehemalige Kolleg*innen oder Schüler*innen treffe. Solch ein Erlebnis hatte ich kürzlich im Supermarkt und freue mich noch heute so darüber, dass ich hier darüber berichten möchte.
Ein neuer Schüler
Im Laufe des 1. Schuljahres wurde ein neuer Schüler bei uns angemeldet. Natürlich nahm ich Kontakt zu der alten Schule auf um Informationen zu bekommen, zumal der dortige Schulleiter ein guter Freund von mir war. Ich erfuhr, dass John (Name geändert) in der anderen Schule auffällig war, weil er und seine Geschwister kaum deutsch sprachen und häufig nicht zu Schule und Kindergarten kamen. Es gab darüber Streit mit dem zuständigen Schulleiter, der sogar Strafmaßnahmen gegen die Familie einleiten wollte. Wohl auch aus diesem Grund sind sie dann in die Region meiner Schule gezogen.
„Schwierige Kinder“ haben mich schon immer magisch angezogen. In der Regel waren nämlich nicht die Kinder schwierig, sondern ihre Lebensumstände. Und mein Berufs- und menschliches Ethos war und ist, hauptsächlich Kindern zu helfen wo ich kann. Ich nahm deshalb John in meine Klasse und machte die gleichen Feststellungen wie die Kollegen der früheren Schule: John kam relativ unpünktlich, nur selten mit dem Schulbus, relativ oft gar nicht, er sprach kaum deutsch, dafür ein sehr schlechtes Englisch und hatte fachliche Rückstände. Aber er war stets sehr gepflegt und höflich und ein nettes Kind.
Da er in der Regel von seinem Vater zur Schule gebracht wurde, habe ich das Gespräch mit ihm gesucht und fand auch eine Erklärung für die Besonderheiten der Familie und John: Der Vater war deutscher ohne Schulabschluss, der später in den USA lebte. Dort heiratete er eine portugiesisch sprechende Frau und sie bekamen 4 Kinder, die sie im mormonischen Glauben erzogen.
Zu Hause wurde eine Mischung aus deutsch, englisch und portugiesisch gesprochen, Bildung hatte nicht den höchsten Stellenwert, aber die Kinder sollten glücklich sein (und waren es auch, wie mir schien). Und aus Glaubensgründen durften sie auch nicht an manchen Veranstaltungen der Schule teilnehmen. Zudem war bei 4 Kindern des Öfteren eines krank, dann schaffte die Familie es auch nicht immer, John zur Schule zu bringen. Diese gesamte Gemenge-Lage erschwerte natürlich Johns Integration in die Klasse und auch seinen Lernerfolg, obwohl er sich durchaus bemühte.
Es waren also Maßnahmen notwendig, um einen störungsfreien und möglichst erfolgreichen Lernerfolg für John zu ermöglichen. Und die konnten nicht 08/15 von der Stange, sondern mussten individuell auf dieses Kind ausgerichtet sein.
In Gesprächen mit den Eltern haben wir uns dann geeinigt, dass Robert möglichst immer zur Schule kommen soll, ich aber einfach akzeptiere, wenn er mal nicht da ist – ohne eine besondere Nachricht zu erhalten. Das hat enorme Spannung aus dem Schulbesuch genommen! Weiterhin haben wir für Robert und später auch seiner jüngeren Geschwister einen „sonderpädagogischen Förderbedarf“ im Bereich Sprache feststellen lassen. Damit wurden die Kinder auch inhaltlich entlastet: Sie erhielten Sprachförder-Unterricht und erleichterte Arbeitsbedingungen im Schulalltag. Und mit den Eltern verabredete ich, dass wir so oft es geht kurz miteinander reden.
Diese kleinen Maßnahmen hatten gewaltigen Erfolg. John kam relativ häufig in die Schule, bekam von uns Lehrern erleichterte Aufgaben, wenn er mal fehlte, war er automatisch entschuldigt. Auf dieser Basis konnte er in den nächsten zwei Schuljahren inhaltlich aufholen und integrierte sich auch in den Klassenalltag. Insbesondere die Mutter war sehr glücklich darüber. Ich werde nie vergessen, wie sie einmal bei mir im Büro saß und sich mit Freudentränen in den Augen bei mir bedankte, dass wir so freundlich und hilfsbereit zu John waren.
Schulwechsel
Nach der 4. Klasse musste John auf die weiterführende Schule, also in die Hauptschule. Deren Leiter war ebenfalls ein Freund von mir, mit dem (und zwei weiteren Kollegen) ich mich regelmäßig privat traf. Ich bat ihn einfach, in den nächsten Jahren gut auf John aufzupassen und ihm zu helfen.
Ich ging dann in den Ruhestand und verlor die schulischen Ding aus dem Auge. Auch die damit zusammenhängenden privaten Kontakte wurden seltener und schliefen irgendwann ein.
Um so mehr freute ich mich dann letzte Woche im Supermarkt. Ich lief beim Einkaufen einem jungen Mann über den Weg, der mir bekannt vorkam, ohne dass ich ihn einordnen konnte. Was bei mir häufiger vorkommt, da ich Generationen von Kindern in Sportverein und Schulen kennengelernt hatte – und die als Erwachsene doch anders aussehen…
Wenig später sprach der junge Mann mich an: „Sind Sie Herr Karsten?“ – „Ja.“ – „Kennen Sie mich noch? Ich bin John. Ich war in Ihrer Klasse!“ Selbstverständlich erinnerte ich mich sofort an ihn. Solche besonderen Zusammenhänge vergisst man einfach nicht.
Und dann erzählte er mir – in inzwischen perfektem Deutsch -, dass er in der nächsten Schule den Haupt- und dann auch noch den Realschulabschluss gemacht hat. Ihm stand nunmehr der Weg ins Berufsleben offen und auch privat war alles im Lot – seine Freundin stand neben ihm.
Fazit
Integration geglückt, die schulische Arbeit war erfolgreich. Und das war keine Hexerei, sondern einfach das Kind ansehen, es annehmen, wie es ist und hilfreiche Schritte umsetzen, auch wenn sie unkonventionell und am Rande des (Schul-) Gesetzes liegen. Ich habe mich jedenfalls sehr für John gefreut – und war auch ein ganz kleines bisschen stolz auf mich, dass ich damals im richtigen Moment die richtigen Sachen gemacht habe!
